Über Sinn und Glück in Krisenzeiten – Gebannt von der Schauspielpremiere im Theater Wasserburg
Das Motto für die Spielzeit 2022/23 beim Theater Wasserburg heißt: „Alles absurd“. Nik Mayr, Regisseur der Inszenierung „Werther“, sprach in seiner kurzen Rede von der Absurdität unserer Zeit. Wenn man unter Absurdität auch den Gegensatz vom Sinn suchenden Menschen und der Sinn verneinenden Welt versteht, dann war man bei der Premiere von „Werther“ genau richtig.
Der Regisseur hatte die Figur des Werther auf drei Akteure verteilt, die, auf Schaukeln sitzend, sich mit der Welt auseinandersetzten und damit haderten. Dem Betrachter kamen sofort mehrere Assoziationen: Schaukeln als Synonym für Naivität wie bei Fontanes Effi Briest? Aufteilung der Romanfigur von Goethe auf drei Personen? Sind damit vielleicht auch Lotte, Werther und Albert gemeint, jene Personen, die während der Aufführung immer wieder persönlich erwähnt werden?
Das Theater Wasserburg nennt diese Inszenierung „Werther von Johann Wolfgang von Goethe“. Will man nahe beim Briefroman aus dem Jahre 1774 sein oder soll mit der Inszenierung gezeigt werden, dass das Thema von Goethes Briefroman auch heute noch seine Aktualität habe? Liest man das Programm, so scheint der aktuelle Bezug gewollt zu sein: Glückssuche bei den Wohlhabenden, die eigentlich nie zum vollen Erfolg führen kann. Gerade deshalb hatte John Stuart Mill im 19. Jahrhundert nicht das Glück, sondern die Suche nach Glück (pursuit of happiness) als grundlegendes Recht der Menschen formuliert. Werther sagt es in der Aufführung deutlich: „Der glückliche Mensch ist vollkommen.“ Und da niemand vollkommen ist, aber nach Vollkommenheit strebt, ist er nie glücklich. Aber auch das Unglück kennt Grenzen: „Schmerzen können nur bis zu einem Maß ertragen werden.“ Das war das Geheimnis der Folter im Mittelalter. Es brachte Menschen dazu, alles zu gestehen, nur damit die Qual aufhört. Diktatorische Systeme pflegen diese Menschenbehandlung bis heute.
Und auch eine Kritik an der Konsumgesellschaft wird nicht ausgespart, wenn Werther das deutlich ausspricht, was viele denken: „Alle Geschenke dieser Welt ersetzen nicht den einen Moment für sich selbst.“ Und da wären wir bei der Liebe. Werther sagt immer wieder über Lotte, dass sie Albert gehöre. Das alte Thema der menschlichen Existenz, die Erich Fromm so gekonnt analysiert hat, Haben oder Sein, wird hier manifest. So leidenschaftlich, wie es Rosalie Schlagheck gelungen ist, Werthers Liebe zu Lotte darzustellen, so aussichtslos wirkt diese Liebe. „Leidenschaft – Trunkenheit – Wahnsinn“ heißt es aus Werthers Munde, da wird die Selbsttötung zu einer großen mutigen Handlung und ist kein Zeichen der Schwäche mehr. „Die menschliche Natur ist voller Widersprüche und findet keinen Ausweg.“ Da ist die Selbsttötung der konsequente Ausweg.
ZWISCHEN ARKADIEN UND ELYSIUM IM ZUSTAND DER KRISE
Goethe und sein Freund Schiller haben die Entwicklung des Menschen triadisch gesehen: Der Urzustand, von Goethe Arkadien genannt, ist nicht mehr da, das Elysium, wohin Schiller immer wollte, noch nicht erreicht. Man befindet sich im Zustand der Krise, und die Zeit des Briefromans „Die Leiden des jungen Werthers“ ist eine Krise: In den USA wird 1773 die „Bosten Tea Party“ stattfinden, drei Jahre später die „Declaration of Independence“ proklamiert. Nur 13 Jahre später beginnt mit dem Sturm auf die Bastille die Französische Revolution. Alles war im Umbruch, zerfloss. Man kam nicht zu sich. „Eine Zeit, da war uns wohl, das war die Zeit, in der wir nichts von uns wussten!“ sagt einer der drei Werther in der Aufführung in Wasserburg. Das ist dann der nächste Punkt. Die Wissensgesellschaft löst die Gesellschaft der Analphabeten ab. Auch dies ging nicht ohne Irritationen.
Nachdem Goethes Briefroman 1774 erschienen war, ging die Auflage für damalige Verhältnisse durch die Decke. Der Briefroman blieb auch später Goethes größter Publikumserfolg. Er traf wohl das Lebensgefühl einer ganzen Generation. In der Folge gab es „Wertheriaden“, es gründeten sich Gesellschaften, die der Selbsttötung das Wort redeten. Es gab zahlreiche Nach-, Um- und Weiterdichtungen des Briefromans
Peter Rink
Das Stück wird im Theater Wasserburg noch am Sonntag, 23. Oktober, und am Wochenende 25., 26. und 27. November aufgeführt. Beginn ist am Freitag und Samstag um 20 Uhr, sonntags um 19 Uhr. Ein kostenfreies Einführungsgespräch, genannt „Vor.reden.“, ist am Samstag, 26. November, um 19.15 Uhr im Theatersaal. Kulturjournalistin und Autorin Ute Mings spricht mit Regisseur Nik Mayr über seinen „Werther“.
Fotos: Christian Flamm
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