Lucca Züchner mit dem Darsteller:innenpreis 2022 ausgezeichnet – Kulturreferent Christoph Maier-Gehring überreichte Urkunde im Theater Wasserburg

Lucca Züchner spielt in diesem Stück allein. Und sie spielt zwölf Rollen. Das Ganze bringt sie in höchst dynamischer Weise in einem 80 Minuten dauernden Ein-Personen-Stück unter. Das macht Lucca Züchner aber derart gekonnt, dass nicht ein Hauch von Spannungsarmut entstehen mag.
Die Handlung ist einfach wie furchtbar: Die achtjährige Odette wird von ihrem Onkel sexuell missbraucht und kann anschließend nicht von sich aus darüber reden. Er nennt es einfach „Kitzeleien“. Dieser Euphemismus begleitet das Publikum den ganzen Abend. Es fällt auf, dass Odette ihr Zimmer verwahrlosen lässt, dass sie unbedingt tanzen lernen will, sie sagt, ihre „Wut heraus tanzen“ will. Und dann lernt sie tanzen, und sie tanzt sehr gut. Sie geht auf Tourneen und verliert sich dort, weiß nicht, wo sie ist. Es fehlt ihr jene Geborgenheit, die sie so sucht. Und wenn sie zu Hause ist, kann sie sie auch nicht finden, weil ihr die Eltern einfach fremd sind, sie nicht verstehen, auch nicht versuchen, sie verstehen zu wollen.
Erst gut 20 Jahre später, Odette ist mittlerweile 30 Jahre alt, fängt sie an über den Missbrauch zu sprechen und stößt auf Verständnislosigkeit und Gleichgültigkeit. Auch der Besuch bei einer Psychiaterin bringt nichts, denn die Psychiaterin sagt der Mutter, nicht Odette sei das Problem, sondern sie. Die Mutter steht einer Aufarbeitung anscheinend im Weg und sagt ihrer Tochter, sie solle aus einer Mücke keinen Elefanten machen, unterstellt ihr, sie sei unglücklich. Odette protestiert lautstark, sie sei wütend, aber nicht unglücklich. Am Ende geht sie vor Gericht und verklagt den Onkel. Und die Polizei scheint dankbar, Odette nun benutzen zu können, denn man kenne ihn schon länger, den Täter, habe ihm nur noch nichts Strafbares nachweisen können. Das Verhältnis zur Mutter bleibt gestört, den Vater erleben wir nur Zeitung lesend, sich nie darum kümmernd, wie es seiner Tochter geht. In einer Phantasie träumt sie davon, dass der Vater dem Onkel Gewalt antut, so wie es der Onkel bei ihr getan hat.
Lucca Züchner spielt die zwölf Figuren, die sie an diesem Abend verkörpert, immer wieder anders, immer wieder neu. In einem Gespräch hat Lucca Züchner diesen Punkt auch exemplifiziert: Sie habe sich mit so viel Emotionalität in die Rolle – eigentlich die Rollen – eingebracht, dass sie mit jedem Spiel neue Facetten an den Charakteren entdeckt habe. Das führt bis zu dem Punkt, dass man auch den Täter näher kennenlernt: Ohne zu akzeptieren oder auch zu entschuldigen, hört man, was Menschen bewegt, die Kinder sexuell missbrauchen. Das ist vielleicht insofern als hilfreich zu bezeichnen, als es darum geht, diese schreckliche Wirklichkeit zu bannen.
Das Stück soll ein therapeutischer Prozess sein, meint Regisseur Thorsten Krohn. Die Rollenverteilung von Täter und Opfer, von Macht und Ohnmacht werde immer wieder neu justiert. Und es gilt auch die Erkenntnis, dass Traumata sich über mehrere Generationen hin in die menschlichen Seelen einnisten können. Für den Regisseur und die Darstellerin bleibt aber offenkundig, dass etwas, das der Schauspieler auf der Bühne durchlebt, auch das Publikum erreichen kann. Lucca Züchner ist dies an diesem Abend herausragend und eindrucksvoll gelungen. Nicht nur dank ihres tänzerischen und schauspielerischen Könnens, sondern auch der Fähigkeit des intensiven Tempowechsels. Höchst dynamisch und dann doch wieder retardierend nachdenklich.
Das Stück, von Andréa Bescond unter dem Titel „Les Chatouilles ou la Danse de la colère“ veröffentlicht, ist 2018 in Frankreich verfilmt worden. Andréa Bescond erzählt ihre persönliche Geschichte, wie sie durch das Tanzen anfangen konnte die furchtbaren Erlebnisse ihrer Kindheit überhaupt ein wenig zu verarbeiten. Lucca Züchner sagte zum Ende des Stücks, im Rahmen der Auszeichnung, dass die 43-jährige Andréa Bescond bis heute jedweden Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen habe.

Peter Rink
Fotos: Christian Flamm
Schaufenster

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