Serie: Wasserburg vor 100 Jahren – Teil 11 / Radikalisierung
„Die Stimmung für eine nationalistische Revolte ist gut“, fasst Historiker Peter Rink die Lage zum Beginn des Juni 1923 zusammen. Als der hingerichtete Leo Schlageter am 9. Juni nach Freiburg überführt wurde, seien die Anhänger der nationalistischen Parteien und die Kommunisten aktiv dabei gewesen, die Beisetzung zu einer Kampfdemonstration werden zu lassen. Auf dem Eisenbahnweg von Düsseldorf nach Freiburg hätten sich an der Bahnstrecke zahllose Kampfverbände eingefunden, um dem Toten eine letzte Ehre zu erweisen. Hitler habe in Berlin die Gelegenheit gehabt, Schlageter als jemanden zu bezeichnen, der den „Heldentod“ gestorben sei. Dabei verwendete er die Parole: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los“, ein Schlagruf, den auch Goebbels in seiner legendären Sportpalastrede am 18. Februar 1943 verwendet habe. Auf „Wollt ihr den totalen Krieg?“ sollen aus der Menge zahlreiche „Heil“-Rufe ertönt sein. Zurück zum Juni 1923: Im Folgenden die Ereignisse im Überblick – von der Weltpolitik bis nach Wasserburg, wo es unter anderem um den Erhalt der Palmano-Anlage geht (Quelle: Wasserburger Anzeiger 1923, zusammengetragen von Peter Rink):
Es geht los mit der allgemeinen …
… WELTCHRONIK für die erste Junihälfte 1923
Freitag, 1. Juni
Durch das Reichsmieterschutzgesetz wird das Kündigungsrecht des Vermieters stark eingeschränkt. Das Gesetz steht im Zusammenhang mit dem seit Kriegsende herrschenden Wohnungsmangel. Nur noch in Ausnahmefällen ist durch gerichtliche Klage die Kündigung einer Wohnung möglich.
Sonntag, 3. Juni
Die Schweizer Volksabstimmung lehnt mit 356 910 gegen 258 422 Stimmen die Änderung der Alkoholgesetzgebung ab, die auf die Einschränkung des Schnapskonsums und der Obstbrennerei abzielt. Damit haben sich die Schweizer Bürger gegen das Votum aller Parteien und der Presse entschieden.
Dienstag, 5. Juni
In einem Bericht der Londoner Zeitung „Daily News” wird die Lage der Arbeiter im Ruhrgebiet als trostlos bezeichnet. Wegen der rasanten Preissteigerung könnten die Arbeiter auch mit vor wenigen Tagen erhöhten Löhnen den Lebensunterhalt ihrer Familien nicht bestreiten.
Mittwoch, 6. Juni
Da die Preise den Löhnen und Gehältern davonlaufen, wächst unter den Arbeitern die Bereitschaft zur Radikalisierung. In Leipzig kommt es zu von Kommunisten und radikalen Sozialisten hervorgerufenen Teuerungsunruhen, wobei sieben Menschen getötet und über 100 verletzt werden. In Oberschlesien bricht ein Bergarbeiterstreik aus, der bis zum 16. Juni andauert.
Der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré und sein belgischer Kollege Georges Theunis halten nach einer Unterredung in Brüssel an den früheren Beschlüssen zur Ruhrbesetzung fest. Voraussetzung jeder Beratung über die Reparationsfrage sei die Aufgabe des passiven Widerstands der Deutschen.
Donnerstag, 7. Juni
In einer Denkschrift an die alliierten Staaten erklärt die Reichsregierung ihre Bereitschaft zur Leistung der jährlichen Reparationszahlungen. Die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft soll von einem internationalen Gremium überprüft werden. Frankreich und Belgien fordern vorab die Einstellung des passiven Widerstands, was die Reichsregierung ablehnt.
Deutschvölkische Studenten in München fordern Studienbeschränkungen für jüdische Studenten und Dozenten.
Freitag, 8. Juni
Die Lehrerin und Frauenrechtlerin Helene Lange erhält die Ehrendoktorwürde der Staatswissenschaften der Universität Tübingen.
Britische Pressestimmen betonen, dass mit den neuen deutschen Reparationsvorschlägen (Memorandum vom 7. Juni) ein „ehrliches und annehmbares“ Angebot vorliege.
Sonntag, 10. Juni
Die Überführung der Leiche des hingerichteten Leo Schlageter in seinen Geburtsort Schönau (Baden) nehmen die NSDAP und vaterländische Verbände zum Anlass, Schlageter-Gedächtnisfeiern abzuhalten. Auch in München findet eine Schlageter-Gedächtnisfeier der NSDAP und der vaterländischen Verbände statt.
Zwei französische Feldwebel werden in Dortmund von Franzosen ermordet. Die Besatzungsbehörde verhängt den Belagerungszustand über die Stadt. In der Nacht erschießen Patrouillen willkürlich sechs Deutsche und plündern die Leichen aus. Zahlreiche Dortmunder werden verhaftet und misshandelt.
Im Berliner Grunewald-Stadion wird der HSV durch den 3:0-Sieg über Union Oberschöneweide Deutscher Fußballmeister. Die Zuschauerzahl erreicht die Rekordhöhe von 64.000.
Mittwoch, 13. Juni
Der US-Dollar erreicht einen Wechselkurs von 100.000 Mark.
Donnerstag, 14. Juni
Die Reform des Ehescheidungsgesetzes passiert das britische Unterhaus mit 231 gegen 26 Stimmen. Für beide Eheleute genügt als Scheidungsgrund nunmehr Ehebruch. Bisher musste die Ehefrau zudem Misshandlungen nachweisen.
Freitag, 15. Juni 1923
Vor der französischen Kammer sagt Ministerpräsident Raymond Poincaré zur Ruhrpolitik, die deutsche Regierung ermutige Mord- und Sabotageakte und provoziere Frankreich mit lächerlichen Vorschlägen. Deshalb sei man gezwungen, den Druck des Besatzungsregimes zu verstärken und zu verlängern.
Die deutsche Reichsregierung lässt fast allen europäischen Regierungen und der US-amerikanischen Regierung eine Protestnote wegen der Morde an sechs Deutschen in Dortmund (10. 6.) überreichen.
DEUTSCH-FRANZÖSISCHE ANIMOSITÄTEN
Anmerkung: Die Besatzungspolitik im Rheinland und im Ruhrgebiet geht unvermindert weiter, viele Deutsche können sich darüber hinaus das tägliche Leben nicht mehr leisten.
Die Pfalz in Not:
(WA 125/1923 vom 5. Juni)
1.000 Jahre Gefängnis:
(WA 125/1923 vom 5. Juni)
Der passive Widerstand wird nicht eingestellt:
(WA 130/1923 vom 10. Juni)
Zum Tode verurteilt:
(WA 134/1923 vom 15. Juni)
INFLATIONSAUSWÜCHSE
Anmerkung: Das Leben wird immer teurer. Am 13. Juni müssen mehr als 100.000 Mark für einen Dollar aufgewendet werden. Auch der „Wasserburger Anzeiger“ muss seine Preise erhöhen. Da die Abonnenten aber anscheinend nicht so eifrig bereit waren, die höheren Preise zu akzeptieren und den geforderten Betrag zu entrichten, sah sich die Redaktion gezwungen, an das Ehrgefühl ihrer Abonnenten zu appellieren:
(WA 128/1923 vom 8. Juni)
Kriegszustand in den Schaufenstern:
(WA 123/1923 vom 2. Juni)
Andrang von Österreichern:
(WA 126/1923 vom 6. Juni)
Wasserversorgung:
(WA 126/1923 vom 6. Juni)
Dieb in Prien:
(WA 128/1923 vom 8. Juni)
Verkauf von Reichsmark:
(WA 131/1923 vom 12. Juni)
Mussolini legt Pläne dar:
(WA 132/1923 vom 13. Juni)
REGIONALES IN DER 1. JUNIHÄLFTE 1923
Anmerkung: Ein allgemeiner Sittenverfall wird beklagt, Die Zahl der unehelichen Kinder steigt an, junge Mädchen gelten als „pervers“, wenn sie mit 16 Jahren noch jungfräulich sind.
Flegel in Rosenheim:
(WA 123/1923 vom 2. Juni)
Warnung vor Mädchenhändlern:
(WA 126/1923 vom 6. Juni)
„Zigeuner“:
(WA 127/1923 vom 7. Juni)
Grenzverkehr:
(WA 127/1923 vom 7. Juni)
Erfindung zum Dengeln:
(WA 133/1923 vom 14. Juni)
Bevölkerungsbewegung, WA 134/1923 vom 15. Juni 1923
WASSERBURG UND UMGEBUNG IN DER ERSTEN JUNIHÄLFTE 1923
Erwerb der Mittermühle:
(WA 123/1923 vom 2. Juni)
Jahresbericht der Wasserburger Fußballer:
(WA 125/1923 vom 5. Juni)
Todesanzeige eines 70-jährigen Fräuleins:
(WA 125/1923 vom 5. Juni)
Von der Marienkirche:
(WA 126/1923 vom 6. Juni)
Guter Ruf der Ameranger Feuerwehr:
(WA 126/1923 vom 6. Juni)
Durchschlag des Soyen-See-Stollens:
(WA 128/1923 vom 8. Juni)
Zur Bebauung in Wasserburg:
(WA 128/1923 vom 8. Juni)
Zur Palmano-Anlage:
(WA 130/1923 vom 10. Juni)
Sommerfahrplan der Bahn:
(WA 131/1923 vom 12. Juni)
(Anmerkung: Eine Fahrt von Wasserburg- Stadt nach München Ost dauerte in der Regel 3 1/2 Stunden, soviel zum Thema, früher war alles viel einfacher … )
Wie sich in der zweiten Junihälfte alles weiterentwickelt …
… wird in Teil 12 der Serie zu lesen sein, die in Kürze folgt.
PETER RINK
Bildernachweis:
Vorlage für das Titelbild/Serienlogo:
Rückseite des Gutscheins (Notgeld) der Stadt Wasserburg aus dem Jahr 1923 über eine Million Mark mit Zeichnung der Innfront/Burg vom Südufer des Inns (Rothmaier, 1920)
Gutscheinbild:
Vorderseite des Gutscheins der Stadt Wasserburg
StadtA Wasserburg a. Inn, IVd3, Repro/Fotobearbeitung: Matthias Haupt
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