Neue Serie: Wasserburg vor 100 Jahren – Teil 1 / Der Irrsinn beginnt

1923 begann „eine Zeit des fortgeschrittenen Irrsinns“, wie Historiker Peter Longerich die Lage zusammenfassend festhielt. Insbesondere die Inflation, die Ausmaße erreichte, für die das Wort „Inflation“ ohne das vorangestellte „Hyper“ gar nicht mehr ausgereicht hätte, sorgte für den Auftakt einer Zeit, in der einiges gravierend aus den Fugen geriet. Die Wirtschaft kollabierte, die Politik geriet aus dem Ruder, die Menschen versanken in immer größeren Nöten.
Peter Rink begibt sich für die Wasserburger Stimme ab sofort auf Basis des damaligen Wasserburger Anzeigers in den zeitlichen Ablauf der Ereignisse, mit denen die Gesellschaft in diesem schicksalsbestimmenden Jahr der Reihe nach umgehen musste.

Es geht los mit dem …

WERTVERFALL DER MARK

Innerhalb eines Jahres lag die Inflation bei über 5.000 Prozent. So war Ende 1921 ein US-Dollar knapp 139 Mark wert. Anfang 1923 lag der Wechselkurs bei über 7.330 Mark. Am 4. Januar 1923 überschritt dieser Wechselkurs den Wert von 7.500 Mark. Am 8. Januar meldet dann der Wasserburger Anzeiger (WA), dass der Wechselkurs auf 8.650 Mark angestiegen sei. Das entsprach einem Wertverfall von 18 Prozent innerhalb einer Woche. Und diese Entwicklung war erst der Anfang.

260 Mark für eine Fahrt und 50 Mark für den Brief
Im WA wurde darüber Klage geführt, dass die Fahrpreise für Bus und Bahn stark angestiegen seien. Anfang des Jahres steigt der Preis für Fahrscheine bei der Bahn um 70 Prozent. Und die Zeitung meldet dann am 8. Januar 1923, dass eine Busfahrt von Wasserburg nach Amerang mittlerweile 260 Mark koste, da der Kilometerpreis für das Busfahren auf 20 Mark angestiegen sei. Auch die Briefportokosten stiegen an: So musste ein einfacher Brief mit 50 Mark frankiert werden und eine Postkarte mit 25 Mark.

200 Mark für die Kilowattstunde Strom
Am 9. Januar 1923 meldete der WA, dass der Banknotenumlauf in Deutschland innerhalb der letzten zwölf Monate von 143 Milliarden Mark auf 1,3 Billionen Mark angestiegen sei. Das Gesamtvermögen aller Deutschen sei hingegen von 360 Milliarden Goldmark (1913) auf 200 Milliarden Goldmark gesunken.
Schließlich steigen auch die Stromkosten. So wurde Anfang 1923 der Preis für eine Kilowattstunde von 140 Mark auf 200 Mark angehoben.

Gleichzeitig kündigen österreichische Industrielle einen allgemeinen Lohnabbau von 20 bis 25 Prozent an. Die Arbeitslosigkeit in Österreich war ab Ende 1922 sehr stark angestiegen. So verzeichnete man im Oktober 1922 50.000 Arbeitslose in Österreich, im November 1922 bereits 93.000 und im Dezember schließlich 110.000 arbeitslose Arbeitnehmer (WA 2/1923 vom 3.1.1923, S.2).

Die Landwirte in Rottach-Egern wiederum haben zu dieser Zeit beschlossen, ihre Milch an Einheimische für 85 Mark pro Liter abzugeben. Fremde und Reisende hatten hingegen 140 Mark pro Liter zahlen.

 

Pariser Reparationsverhandlungen

Bei den Verhandlungen in Paris zur Festsetzung der Reparationen zeigt sich die französische Seite, wie von der deutschen Regierung kaum anders erwartet, höchst unversöhnlich. Auch die britische Delegation zeigt sehr deutlich ihr Unverständnis für die Haltung der französischen Regierung.
Am 9. Januar 1923 kann man im WA lesen, dass französische Truppen die Stadt Essen besetzen wollen. Ziel des französischen Ministerpräsidenten Raymond Poincaré war nicht zuletzt die vollständige Kontrolle des rheinisch-westfälischen Industriereviers. Unter dem Vorwand unvollständiger Reparationen und eines vorsätzlichen Bruchs der Londoner Zahlungsbestimmungen ordnete Poincaré im Januar 1923 die Ruhrbesetzung an, die dann am 11. Januar 1923 umgesetzt wurde. Die Deutschen reagierten auf die Ruhrbesetzung mit dem „passiven Widerstand“, der die Inflation noch weiter anheizen wird.


Krise in der Türkei

Die englische Kolonie in Konstantinopel erhielt die Aufforderung aus London, die Stadt umgehend zu verlassen. Das betraf etwa 1.600 Menschen.

 

Besetzung des Ruhrgebiets: Vereinsball in Edling wird abgesagt

Am 11. Januar 1923 besetzten französische und belgische Truppen der Ententemächte das Ruhrgebiet.
Im WA (Nr. 9/23 vom 12.1.1923) wurde dann auch sofort gemeldet, dass in ganz Bayern der Sonntag, 14.1.1923 zum nationalen Trauertag erklärt werde. Der „Veteranen- und Kriegerverein Edling“ sagt seinen Vereinsball mit dem Hinweis auf „die Besetzung des Ruhrgebietes“ ab. Die Reichsregierung betrachtet den Versailler Vertrag als „gebrochen“ und erklärt das Ende aller Reparationszahlungen. Der Konflikt gewinnt an Schärfe durch den „passiven Widerstand“ der Deutschen, wie er durch Reichskanzler Cuno am 13. Januar verkündet wird. Die äußerst militante Vorgehensweise vor allem Frankreichs tut das Ihrige, um den Konflikt anzuheizen. So wird gemeldet, dass die vorsätzliche Erschießung von Deutschen durch französische Soldaten von einem französischen Gericht als „Notwehr“ bezeichnet wurde, was die deutsche Öffentlichkeit immens empörte. Der Zechenbesitzer Fritz Thyssen und weitere Industrielle werden von einem französischen Kriegsgericht zu hohen Geldstrafen verurteilt, weil sie sich weigern, Kohle nach Frankreich zu liefern.

Am 14. Januar 1923 wird bekannt, dass die litauische Armee dazu übergeht, Teile von Ostpreußen mit der Stadt Königsberg zu besetzen. Dies führt zu massiven Protesten der deutschen Seite.

Am 15. Januar 1923 kostet ein US-Dollar 11.250 Mark
Am 17. Januar 1923 kostet ein US-Dollar 18.100 Mark
Am 18. Januar 1923 kostet ein US-Dollar 23.000 Mark

Was es im Januar 1923 außerdem im WA nachzulesen gab:

Polizeibericht über Kalbsdiebstahl in Oberzarnham mit Namensnennung
Der Datenschutz war vor 100 Jahren offensichtlich noch nicht so weit fortgeschritten wie heute.
In der Ausgabe vom 4.1.1923 wurden die Räuber namentlich benannt:

Kalb gestohlen und geschlachtet
Am 31. Dezember wurde bei dem Bauern Gierfl in Oberzarnham ein Kalb gestohlen und in geschlachtetem Zustand in Rucksäcken verpackt nach Hampersberg geschleppt. Die Diebe fühlten sich aber nicht recht sicher und versteckten das Kalb vor der Garser Brücke in der Innböschung. Unser rühriger Herr Gendarmeriewachtmeister stöberte aber das Kalb auf und die Diebe auch dazu. Die Gauner entpuppten sich als frühere Kanalarbeiter; der eine davon heißt Karl Ziegler und ist der Polizei gar wohl bekannt. Auch eine „Dame“ war dabei, nämlich ein Frl. Alkofer, welche Späherdienste geleistet hatte. Die ehrenwerte Gesellschaft wurde im gleichen Schritt u. Tritt in die Frohnveste in Wasserburg eingeliefert; das dicke Ende kommt erst noch.


Bericht über das „Unwesen der Ausländer“
Geschäftsleute beschweren sich in München, wie in der Ausgabe vom 18. Januar 1923 nachzulesen ist:

München: In einer Versammlung der Geschäftsleute der Großmarkthalle wurde u.a. auf das Unwesen der Ausländer hingewiesen. In der Großmarkthalle treiben sich mehr Ausländer herum als Deutsche. Dabei blüht das Schiebergeschäft: bis zu 60 Waggons sind in einzelnen Fällen schon verschoben worden. Es sind mindestens 10 italienische Firmen zu nennen, die nicht handelsgerichtlich eingetragen sind. Solche Leute machen skrupellos ihre Millionengeschäfte vom Hotel aus und verschwinden dann wieder auf einige Zeit. Das Steuerzahlen aber überlassen sie den Einheimischen. Nach den Vorgängen im Westen können wir nicht mehr verpflichtet werden, solche Leute hier zu behalten, wenn sie nicht wie der Einheimische Steuern und Abgaben entrichten.“

Wie Arbeitslosigkeit, Armut und Krankheit langsam überhandnehmen …
… ist in Teil 2 der Serie zu lesen, die in Kürze folgt. 

PETER RINK

Bildernachweis:

Vorlage für das Titelbild/Serienlogo:
Rückseite des Gutscheins (Notgeld) der Stadt Wasserburg aus dem Jahr 1923 über eine Million Mark mit Zeichnung der Innfront/Burg vom Südufer des Inns (Rothmaier, 1920)

Gutscheinbild:
Vorderseite des Gutscheins der Stadt Wasserburg

StadtA Wasserburg a. Inn, IVd3, Repro/Fotobearbeitung: Matthias Haupt