Neue Serie: Wasserburg vor 100 Jahren – Teil 2 / Die Not wird immer größer
Dass im Januar 1923 eine Busfahrkarte von Wasserburg nach Amerang 260 Mark kostete, dass Strom für 200 Mark die Kilowattstunde zu haben war und dass ein Brief für 50 Mark verschickt werden konnte, war in Teil I unserer neuen Serie „1923 – Wasserburg vor 100 Jahren“ zu lesen gewesen. Wie sich die Lage im Folgenden immer weiter verschlechterte, warum das Brot in Wasserburg teurer wurde als in München und wie allein der Hunger viele Menschen in Tod trieb, hat Peter Rink für die Wasserburger Stimme anhand des damaligen Wasserburger Anzeigers (WA) zusammengetragen.
Es geht los mit der allgemeinen …
… Chronik für die Zeit ab Mitte Januar 1923
Französische Truppen besetzen Bochum, Witten, Recklinghausen und Dortmund.
Der Wert des US-Dollars erreicht einen Stand von 23.000 Mark.
Wegen der Weigerung, Kohle an die Besatzungsmächte zu liefern, werden der Zechenbesitzer Fritz Thyssen und weitere Industrielle vom französischen Kriegsgericht in Mainz zu hohen Geldstrafen verurteilt.
Das Londoner Ultimatum der alliierten Reparationskommission wird in Kraft gesetzt.
Deutschland ist damit zu jährlichen Zahlungen in Höhe von 3,6 Milliarden Mark verpflichtet.
Erster Parteitag der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) in München.
Innerhalb eines Jahres ist die Mitgliederzahl der Partei von 6.000 auf 55.000 angestiegen.
Der Dollarpreis wird auf 45.000 Mark festgesetzt.
Die Ruhrbesetzung und der passive Widerstand
Am 11. Januar waren französische und belgische Truppen ins Rheinland und das Ruhrgebiet einmarschiert. Sie wollten damit gewährleisten, dass Deutschland den Reparationszahlungen nachkommt. Die Deutschen reagierten mit dem „passiven Widerstand“. Dieser hatte viele Facetten:
(WA 18/23 vom 23. Januar 1923)
Wurden Güter nach Frankreich oder Belgien geliefert, zog dies in der Tagespresse regelmäßig einen Sturm der Entrüstung nach sich, wie folgende Meldung zeigt:
Für die französischen Weiber
Geradezu aufreizend muss es wirken, wenn man hört, daß vom Herbst 1920 bis Sommer 1922 vom Reich folgende Damenbedürfnisse für die Franzosen im besetzten Gebiet befriedigt werden mussten: 800 Damenschreibtische, 500 Frisiertoilette, 200 Bidets, 1.600 Bügeleisen, 18.000 Teppiche, 175.000 Servietten, 6.900 Speiseservices, 8.000 Kaffeeservices, 36.000 Kaffeetassen, 72.000 Weißweingläser, 51.000 Rotweingläser, ca. 15.000 Portweingläser, 45.000 Sektgläser, 58.000 Likörgläser, 26.000 Biergläser, 9.000 Weinkaraffen. An Leinwandstoffen für Bettwäsche der Besatzungen hätten rund 3.000 Kilometer Leinwandstoff ins besetzte Gebiet wandern müssen.“
(WA 19/23 vom 24. Januar 1923)
Brot in Wasserburg teurer als in München
Mit dem Fortschreiten der Inflation können sich die Menschen immer weniger leisten, weil die Löhne nicht entsprechend mit ansteigen:
(WA 17/1923 vom 22. Januar 1923)
Und noch ein Vergleich wurde im WA im Januar 1923 aufgestellt:
Hunger und Entbehrung führen zu vermehrt zu Krankheiten und Todesfällen. So meldet der WA:
(WA 20/23 vom 25. Januar 1923)
Erzdiözese ruft zur Solidarität auf: Fasching kein Freibrief für Genuss
Am 30. Januar 1923 veröffentlicht der WA einen oberhirtlichen Aufruf der Erzdiözese München-Freising, in dem zunächst auf das unsagbare Elend in Deutschland hingewiesen wird: Hunderttausende hätten kein Stücklein schwarzes Brot, um den Hunger zu stillen, kein noch so armseliges Stück Tuch oder Wolle, um sich vor Kälte zu schützen, keinen menschenwürdigen Raum zur Wohnung, nicht Holz und Kohle, um sich und den Kindern eine Suppe zu kochen. Die Erzdiözese schlägt auf Basis dieser Begründung eine erhöhte Einschränkung des Lebensalltages vor: „Für uns soll der heurige Fasching nicht ein Anlaß und Freibrief zu Lustbarkeit, Genuß und Verschwendung sein. Weg mit Tanz und Gelagen, weg mit Alkohol und Nikotin, solange Tausende unserer Mitbrüder und Mitschwestern die Opfer des Hungers und der Kälte werden!“
Armut in Wasserburg
„Die erste Beerdigung ohne Holzsarg hat dieser Tage stattgefunden. Ein alter Mann im Alter von 76 Jahren starb im Distriktskrankenhause und ist mit einem Papiersack der Erde übergeben worden.“
Die Zustände führten auch dazu, dass junge Menschen sterben mussten: So ist am 23. Januar 1923 die elfjährige Maria „von ihren Leiden“ erlöst worden, wie es heißt.
Und mit weiteren Gebührenerhöhungen geht es in Wasserburg in den Februar 2023:
In seiner Sitzung am 18. Januar 1923 hat der Stadtrat von Wasserburg beschlossen, ab 1. Februar 1923 die Gebühren für Müllabfuhr um 300% zu erhöhen.
Ab 1. Februar 1923 wird auch der Abopreis für den WA nochmals erhöht, auf nunmehr 900 Mark pro Monat.
Wie sich die Verzweiflung der Menschen allmählich in zunehmende Aggressivität verwandelt und wie die nationalsozialistische Bewegung langsam Fahrt aufnimmt …
… ist in Teil 3 der Serie zu lesen, die in Kürze folgt.
PETER RINK
Bildernachweis:
Vorlage für das Titelbild/Serienlogo:
Rückseite des Gutscheins (Notgeld) der Stadt Wasserburg aus dem Jahr 1923 über eine Million Mark mit Zeichnung der Innfront/Burg vom Südufer des Inns (Rothmaier, 1920)
Gutscheinbild:
Vorderseite des Gutscheins der Stadt Wasserburg
StadtA Wasserburg a. Inn, IVd3, Repro/Fotobearbeitung: Matthias Haupt
Danke für diesen Bericht!
Claudia
Toller Bericht …
Kaum vorstellbar welche Dramen sich vor hundert Jahren abgespielt haben.
Wenn man die Augen schließt und diese Fakten Revue passieren lässt, muss einem klar sein, dass für Extremisten der „Nährboden“ sehr gut war.
Viele Menschen waren sicher so verzweifelt, dass sie sich denen anschlossen, die Verbesserungen versprachen.
Die NSDAP hatte damals viele Möglichkeiten ihre Propaganda durchzusetzen …