Serie: Wasserburg vor 100 Jahren – Teil 3 / Die Gemüter erhitzen sich
Ein hungriges Kind ist kein Dieb, so viel stand fest. Aber alles andere geriet im Februar zusehends ins Wanken. Wie sich langsam eine Haltung gegen Frankreich und für das Vaterland entwickelte, wie Lohn-Nöte für beginnende Abwanderungen und sinkende Geburtenraten sorgten und in welchem Zustand speziell die Wasserburger sich befanden: Peter Rink hat dazu Eindrücke aus dem Februar 1923 für die Wasserburger Stimme anhand des damaligen Wasserburger Anzeigers (WA) zusammengetragen.
Es geht los mit der allgemeinen …
… Chronik für die Zeit von Anfang bis Mitte Februar
Die Franzosen dehnen das Besatzungsgebiet am Rhein weiter aus und besetzen die Städte Offenburg und Appenweier.
Die alliierten Staaten leisten der türkischen Aufforderung nach Abzug der alliierten Kriegsschiffe aus dem Hafen von Smyrna (heute: Izmir) Folge.
Der nationalsozialistische „Völkische Beobachter“ wird in eine Tageszeitung umgewandelt. Hauptschriftleiter ist Dietrich Eckart.
Tod des Physikers Wilhelm Conrad Röntgen in München.
Die deutsche Zollgrenze wird von der westlichen Reichsgrenze an die Ostgrenze des besetzten Ruhrgebiets verlegt.
Die Botschafterkonferenz der alliierten Staaten stimmt der Übergabe des Memelgebiets an Litauen zu.
Ruhrgebiet und Rheinland: Besetzung weckt Abneigung gegen Frankreich
Zentrales Thema Anfang Februar 1923 war nach wie vor die Besetzung vom Ruhrgebiet und des Rheinlandes durch französische und belgische Truppen. Groß war der Zorn im WA, weil es immer wieder Übergriffe auf deutsche Geschäftsleute und Beamte gegeben haben soll. Der passive Widerstand schadete den Besatzungsmächten, aber gleichzeitig auch den Deutschen, und zwar überall im Reich.
(WA 27/1923 vom 2. Februar 1923)
(WA 29/23 vom 5. Februar 1923)
(WA 30/23 vom 6. Februar 1923)
(WA 30/23 vom 6. Februar 1923)
(WA 31/23 vom 7.2.1923)
Inflation – Unterernährung – Kriminalität: Auswirkungen in Wasserburg
Ein zweites großes Thema in den ersten Februartagen war der Wert der Mark. Überraschenderweise schritt nämlich die Geldentwertung im Februar nicht so voran wie befürchtet. Musste man Anfang des Monats noch an die 50.000 Mark für einen US-Dollar aufwenden, so betrug dieser Wechselkurs am 15. Februar noch 24.400 Mark. Der Wert der Mark hatte sich innerhalb von 14 Tagen also verdoppelt. Wie sich später zeigen sollte, war dies nur ein Strohfeuer.
„Wasserburg – Mieter- und Hausbesitzerverein wurden nach eingehender Prüfung der Verhältnisse am Dienstag dahin einig, daß ab 1. Februar bis auf weiteres der Grundmiete 5000 Prozent zugeschlagen werden sollen.“
(WA 26/1923 vom 1. Februar 1923)
„Wasserburg – Der Markverfall und der günstige Stand der Krone hat unsere Bundesbrüder aus Österreich wieder in Scharen angelockt. Der große Ausverkauf hat bereits wieder eingesetzt. Jeder will noch sein Scherflein erwischen vom sterbenden Deutschen Reich!“
(WA 29/23 vom 4. Februar 1923)
„Wasserburg – Wegen der enormen Preissteigerungen müssen auch wir den Bezugspreis für den Wasserburger Anzeiger erhöhen. Er beträgt für den Februar 1.000 Mk. Die verehrl. Abonnenten werden ersucht, den Differenzbetrag von 250 Mk. zu überweisen oder einzubezahlen.“
(WA 29/23 vom 4. Februar 1923)
Geburtenrate sinkt – Arbeitslosenrate steigt
„München – Bei den Münchener Standesämtern wurden im Jahre 1922 2464 Geburten (1921: 2880) angemeldet und 9259 (9413) Sterbefälle registriert. Die Zahl der Eheschließungen ist gegenüber dem Vorjahr von 7818 auf 7477 gesunken. Die Zahl der Geburten ist also stark gesunken.“
(WA 26/23 vom 1. Februar 1923)
(WA 29/23 vom 5. Februar 1923)
(WA 29/23 vom 5. Februar 1923)
Hitler und die NSDAP und der Ausnahmezustand
Die junge NSDAP macht von sich reden. Der WA widmet dieser neuen Partei am 3. Februar die gesamte erste Seite.
Im gesamten Deutschen Reich mit Ausnahme von Bayern wird diese Partei verboten. Sie hat ihre Mitgliederzahl erneut deutlich gesteigert. Die Krise in Deutschland begünstigt sie stark, vor allem in jenen vorwiegend protestantischen Gebieten, in denen es einen starken Mittelstand gibt, der Angst vor der Verarmung hat. Die überwiegend katholischen Landstriche (Bayern, Süddeutschland, Rheinland) können dem Werben der Nationalsozialisten ebenso widerstehen wie die Arbeiterschaft. Auch hier kann sich die NSDAP nicht richtig durchsetzen.
„Wer sich jetzt um die Wahrung der deutschen Einheitsfront nicht kümmere, handle nicht vaterländisch. Fort mit der Zwietracht im Innern, der Feind steht im Ruhrgebiet und am Rhein! Jeder wahre Deutsche darf jetzt nur eine Partei kennen, das gemeinsame Vaterland. – Die Erklärung des Ministerpräsidenten wurde mit demonstrativem Beifall aufgenommen.“
(WA 28/23 vom 3. Februar 1923)
Der Zustand in Wasserburg: Schlechtes Wetter, Streitigkeiten und weitere Nöte
„Wasserburg. Donnerstag früh um 7 Uhr ertönte dahier Feueralarm. Es brannte bei dem etwas eineinhalb Stunden von hier entfernten Bauern Aßböck in Reisach. Das große, zusammengebaute Anwesen, bestehend aus Wohnhaus, Stall und Stadel, brannte bis auf die Umfassungsmauern nieder. Das Vieh konnte gerettet werden, dagegen verbrannten die landwirtschaftlichen Maschinen und Geräte, die Getreide- und Futtervorräte, sowie die Wohnungseinrichtung. Der Schaden ist demnach unter den heutigen Verhältnissen ein ungeheuer großer. Unsere wackere freiw. Feuerwehr traf alsbald auf dem Brandplatze ein und mußte bei Sturm und Regen ganz gewaltige Kraftanstrengungen machen um zu retten, was noch zu retten war. Der Bauer und sein Knecht waren daran, für eine defekte elektrische Sicherung eine neue anzubringen. Als das dritte Mal eine Sicherung angeschraubt wurde, soll durch die aussprühenden Funken das Feuer entstanden sein.“
(WA 26/1923 vom 1. Februar 1923)
(WA 26/1923 vom 1. Februar 1923)
Inflation – Unterernährung – Kriminalität: Auswirkungen in Wasserburg
„Begreiflicherweise sind die Landwirte aufgebracht, wenn Dienstboten ungebührliche Forderungen stellen. Aber auf der anderen Seite herrscht auch in den Kreisen der Dienstboten vielfach große Unzufriedenheit über ungenügende Entlohnung. (…) Als einzig wahrer Grund, der zur Abwanderung führen muß, wird in unserer Gegend allgemein erklärt: Solange die landwirtschaftlichen Arbeitgeber nicht der Teuerung gemäß Lohn zahlen, wird jeder diesem Beruf aus dem Wege gehen, so gut er kann.“
(WA 27/1923 vom 02. Februar 1923)
Unterbrochene Eisenbahnverbindung
Wasserburg – Freitag früh, als der erste von hier nach Grafing abgehende Zug kaum die Stelle oberhalb der Landschaft passiert hatte, löste sich oberhalb des Schienenstranges von der Anhöhe ein großer Block Erdreich, rutschte herab und bedeckte das Geleise. Dadurch wurde der Eisenbahnverkehr unterbrochen.
(WA 29/23 vom 5. Februar 1923)
Feuerlöschprobe mit „Favorit“
„Wasserburg – Am Samstag fand auf dem Platze zwischen der Turnhalle und dem Elektrizitätswerk am Gries eine Feuerlöschprobe mit dem bis jetzt unübertroffenen Feuerlöscher „Favorit“ statt. Die Vorführung erregte allgemeines Erstaunen. In wenigen Minuten war es einem 8jährigen Knaben möglich, mit dem Apparat das mächtige mit Teer und Holz gespeiste Feuer zu löschen. Was diese Erfindung besonders für das Land bedeutet, braucht gewiß nicht erst gesagt zu werden. Der Apparat „Favorit“ sollte wahrhaftig in dem kleinsten Landanwesen nicht fehlen, umsomehr, als heute bei einem Brandunglück trotz aller Versicherungen der Abbrändler in wenigen Stunden ein armer Mann wird, denn es ist unmöglich bei den heutigen wahnsinnigen Preisen das nachzuschaffen, was vom Feuer zerstört wurde. Ist der „Favorit“ im Haus, so schläft’s sich gut. Bricht Feuer aus, so ist die Gefahr in wenigen Minuten abgewendet, jedes Kind kann den Apparat bedienen.“
(WA 29/23 vom 5. Februar 1923)
Vergnügungen und Grippe
„Wasserburg – Wie wir hören, haben der Rauchklub u. Der Spiel- und Sportverein Wasserburg beschlossen, gemeinsam einen sog. Bunten Abend (Varietee) zu veranstalten. Wir wollen heute nicht zu viel verraten, aber das eine dürfen wir sagen, daß der Abend ein äußerst genußreicher zu werden verspricht. Musik, Gesang (unter gütiger Mitwirkung des Liederkranzes „Heideröslein“), akrobatische Nummern (unter Mitwirkung Münchener Kräfte), wechseln mit komischen und anderen Darbietungen in bunter Reihenfolge ab. Die zwei komischen Einakter „Der rote Faden“ und Privatier Wamperl auf dem wilden Kaiser“ unter Regie von Herrn Barbisch sollen auch den verwöhntesten Theaterbesucher befriedigen.“
(WA 31/23 vom 7. Februar 1923)
(WA 31/23 vom 7. Februar 1923)
Was der Februar im Weiteren mit sich brachte …
… ist in Teil 4 der Serie zu lesen, die in Kürze folgt.
PETER RINK
Bildernachweis:
Vorlage für das Titelbild/Serienlogo:
Rückseite des Gutscheins (Notgeld) der Stadt Wasserburg aus dem Jahr 1923 über eine Million Mark mit Zeichnung der Innfront/Burg vom Südufer des Inns (Rothmaier, 1920)
Gutscheinbild:
Vorderseite des Gutscheins der Stadt Wasserburg
StadtA Wasserburg a. Inn, IVd3, Repro/Fotobearbeitung: Matthias Haupt
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