„Nachtasyl"-Premiere im Theater Wasserburg

Im russischen Original heißt das Theaterstück „Nachtasyl“ von Maxim Gorki „Am Boden“ und beschreibt damit trefflich die Situation, die in diesem Stück beschrieben und umrissen werden soll. „Nachtasyl“ ist das erfolgreichste Schauspiel geworden, das Maxim Gorki geschrieben hat. Mehrfach verfilmt, zuletzt in Deutschland 2005, mit Esther Schweins und Hans-Peter Hallwachs in den Hauptrollen. In der Inszenierung von Nik Mayr und Constanze Dürmeier im Theater Wasserburg spielen statt der 17 Personen in Gorkis Original noch vier Personen mit, und sie alle sind mehr oder weniger „am Boden“. Das Theater war bei der Premiere wieder einmal ausverkauft.

An einem Imbissstand, an dem es neben alkoholischen Getränken auch eine Bockwurst gibt, sitzen und stehen in wechselnden Zusammensetzungen die Akteure und bedauern, bemitleiden sich, werden auch zornig aufeinander und beschimpfen sich. Der Imbissstand, hier nennen sie es „die Trinkhalle“ oder den „Kiosk“, hat eine lange Tradition. Im 19. Jahrhundert, im Zuge der Industrialisierung, erfuhren sie einen regelrechten Aufschwung. Und es nimmt nicht wunder, dass kriminalfilmerfahrene Fernsehzuschauer dieses Bild aus manchem Krimi gut kennen. Der Kiosk als Rückzugsort der Nachdenklichkeit, auch der perspektivlosen Nachdenklichkeit.
Nik Mayr hat geschickt das Handlungszentrum aus einem Obdachlosenasyl in einen Kiosk transportiert. Dieser Kiosk ist üppig ausgestattet, während das restliche Bühnenbild eher spartanisch anmutet. Wer die Wurstbuden rund um die Wiener Opern- und Theaterhäuser kennt, weiß, dass sich hier Menschen aller Gruppen und Schichten treffen können, um sich über alles Mögliche zu verständigen oder eben auch nicht.

Damit das Bild der „am Boden“ befindlichen Menschen noch klarer wird, taucht Mayr das Bühnenbild, wie man es auch aus Friedhofsszenen in Kriminalfilmen der 1950er- und 1960er-Jahre kennt, in tiefen Nebel. Aus diesem Nebel steigen die Akteure auf und sprechen miteinander über den Tod. „Du stirbst, und dann hast Du Ruhe.“ Mit dieser Todessehnsucht wird der Zuschauer während dieses Theaterabends immer wieder konfrontiert und verfestigt damit das Gefühl der Sinnarmut des Lebens. Wenn Kleschtsch (wunderbar verkörpert von Hilmar Henjes) sagt, „es gibt so wenig Angenehmes auf der Welt“, dann unterstreicht er dieses Lebensgefühl der Perspektivlosigkeit, das auch dann immer wieder in alkoholischen Getränken ertränkt werden soll, was aber, und das merken die vier Akteure auch, nicht wirklich hilft.

Sie spüren, dass sie kein Zuhause haben und sagen dann auch nolens volens: „Ein Mensch muss einen Ort haben, wo er zu Hause ist.“ Und die Verkleidung der eigenen Befindlichkeiten spielt auch eine wichtige Rolle: „Alle Menschen haben graue Seelen und legen gerne rot auf.“

Was soll helfen gegen die Perspektivlosigkeit? Glaube? „Die Wahrheit ist die Gottheit des Menschen“, hören wir. Dass Natascha eine Prostituierte spielt, verwundert kaum, denn die Prostituierte sei eine „fleischige Kröte gegen die Einsamkeit“. Annett Segerer verkörpert Natascha mit viel Verve, die dann doch wieder zu erschrecken vermag.
Doch was ist die Wahrheit? Worin liegt sie? Wo kommt Hoffnung her? Soll man helfen oder besser bemitleiden? All diese Fragen werden an diesem Abend mehr oder weniger implizit gestellt und doch nicht beantwortet. Die einzige Hoffnung, die geäußert wird, ist die nach einer Heilanstalt für Organismen.

„Ich habe kein Gewissen und Reue spüre ich auch nicht“, sagt Pepel, hervorragend verkörpert von Andreas Hagl. Damit endet das Stück. Der Besitzer des Kiosk, Micha Kostelew, eindrücklich gespielt von Carsten Klemm, stirbt während der Aufführung und außer Pepel bekommt es niemand so richtig mit. Wie kann man selbst bemitleiden, wenn man teilnahmslos ist? Diese Menschen im „Nachtasyl“ oder „am Boden“ können sich nicht helfen und ihnen kann auch nicht geholfen werden, vor allem nicht in einer Welt, die teilnahmslos ist.

Schon in den 1980er-Jahren wurden bei uns viele mit der These konfrontiert, dass man mit Entwicklungshilfe nicht helfe, sondern nur sein eigenes schlechtes Gewissen beruhige. Wenn Menschen „am Boden“ sind, ist dann die Hilfe schon viel früher unterblieben? Und wie hätte sie aussehen können? Mit dieser Nachdenklichkeit wird das Publikum an diesem Abend entlassen.

Das Stück ist sehenswert, keine Frage. Am 23. April und am 5., 6., 7., sowie am 19., 20. und 21. Mai kann es noch besucht werden. Freitags und samstags beginnt die Aufführung um 20 Uhr, sonntags um 19 Uhr im Theater Wasserburg an der Salzburger Straße.

PETER RINK