Serie: Wasserburg vor 100 Jahren – Teil 12 / ...

Papst Pius XI will sich zur den deutsch-französischen Animositäten äußern, das  Völkische und das Kommunistische erfahren eine geradezu „bemerkenswerte Allianz an den rechts- wie linksradikalen Rändern“, wie Historiker Peter Rink bemerkt, die Mark ist zunehmend weniger wert und die Versorgung mit Brennstoffen wird knapp, auch in Wasserburg … Mehr aus der zweiten Junihälfte 1923 ist im Folgenden nachzulesen. Peter Rink hat für die Serie „1923″ der Wasserburger Stimme wieder den damaligen Wasserburger Anzeiger (WA) durchforstet.

Es geht los mit der allgemeinen  …

WELTCHRONIK für die zweite Junihälfte 1923

Samstag, 16. Juni
Fünf Zechendirektoren werden vom französischen Kriegsgericht in Werden wegen ihrer Weigerung, Kohlen an Frankreich zu liefern, zu hohen Haft- und Geldstrafen verurteilt.

 

Sonntag, 17. Juni
In Donaueschingen wird Paul Hindemiths „Das Marienleben”, ein Liederzyklus nach der Dichtung Rainer Maria Rilkes, uraufgeführt.

Nach heftigen Erdbeben kommt es zu einem schweren Ausbruch des im Nordosten Siziliens gelegenen Vulkans Ätna, der mehrere Tage andauert. Die von dem Lavastrom bedrohte Ortschaft Linguaglossa muss in aller Eile evakuiert werden.

Durch Senatspräsident Heinrich Sahm wird der Danziger Flughafen feierlich eingeweiht. Danzig ist ein wichtiger Knotenpunkt für den Flugverkehr nach Osten, gehört seit 1919 aber nicht mehr zu Deutschland.

Die „Albert Ballin”, das neue Flaggschiff der Hapag, wird in Hamburg in Dienst gestellt und läuft am 4. Juli zur Jungfernfahrt nach New York aus.

 

Montag, 18. Juni
In Berlin kostet eine Schrippe (Berliner Ausdruck für Semmel) derzeit rund 260 Mark.

Die Berliner Staatsoper zeigt die deutsche Erstaufführung der Märchenoper „Der goldene Hahn” von Nikolai A. Rimski-Korsakow.

 

Dienstag, 19. Juni
Reichskanzler Wilhelm Cuno berät mit führenden Vertretern der Banken die durch den Marksturz verursachte Währungskatastrophe.

Wegen angeblichen Terrors der Protelarischen Hundertschaften (sozialistisch-kommunistische Kampfverbände) gegen bürgerliche Richtungen in Sachsen sucht eine Delegation des Verbandes sächsischer Industrieller bei der Reichsregierung um Schutz des Reichs nach.

Für die deutschen Beamten wird der allgemeine Teuerungszuschlag von 2900% auf 6000% erhöht.

Der Reichstag in Berlin ratifiziert das Abkommen zur Ausdehnung des Rapallovertrags (16. April 1922), der nur mit der Russischen Sowjetrepublik abgeschlossen worden war, auf die übrigen Sowjetrepubliken. Im Rapallovertrag ist u.a. der Verzicht auf Reparationen festgelegt.

 

Mittwoch, 20. Juni
Vor der Komintern (Kommunistische Internationale) hält Karl Radek, sowjetisches Präsidiumsmitglied der Komintern, in Moskau eine Rede zum Tod von Albert Leo Schlageter, in der er eine völkisch-kommunistische Einheitsfront propagiert.

In Britisch-Indien wird eine fanatische Sikh-Sekte zur ungesetzlichen Vereinigung erklärt. Die Militärpolizei verhaftet 180 der 800 Sektenmitglieder.

 

Donnerstag, 21. Juni
Das bisher größte Schiff des Norddeutschen Lloyd, die „München” (13 325 BRT), wird in Dienst gestellt.

Der US-Dollar ist an der Börse derzeit mit 131.000 Mark notiert.

Während der mehrtägigen Debatte im Preußischen Landtag (seit 18. Juni) ist Innenminister Carl Severing (SPD) scharfen Angriffen der Deutschnationalen ausgesetzt. Der Tod Albert Leo Schlageters, er wurde am 26. Mai von den Franzosen wegen Sabotage hingerichtet, erregt die Gemüter, weil hier Verrat von deutscher Seite vermutet wird.

 

Freitag, 22. Juni
Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) erlässt eine verschärfte Devisenverordnung, die den Handel mit ausländischen Zahlungsmitteln den amtlichen Berliner Börsennotierungen unterwirft, um Devisenspekulationen Einhalt zu gebieten. In einem Rundschreiben an die Länderregierungen unterstreicht Reichskanzler Wilhelm Cuno (parteilos) die dringende Notwendigkeit dieser Devisenverordnung.

Siegmund Fränkel, Vizepräsident der Handelskammer München, wird am Isartorplatz von Nationalsozialisten überfallen, verprügelt und als „Saujud” beschimpft.

In Berlin wird „Der allmächtige Dollar”, ein Film von Eduard von Winterstein, uraufgeführt.

 

Samstag, 23. Juni
In Bielefeld erklären die Vertreter aller im Deutschen Gewerkschaftsbund organisierten Verbände aus dem besetzten Ruhrgebiet, der passive Widerstand dürfe erst nach dem Rückzug der Franzosen und Belgier beendet werden.

 

Sonntag, 24. Juni
Die Interalliierte Rheinlandkommission verfügt die Beschlagnahme sämtlicher Kohlenvorräte im besetzten Ruhr- und Rheingebiet. Damit soll einerseits die deutsche Industrie zum Stillstand gebracht werden und andererseits die französische Wirtschaft beruhigt werden, die Kohlenengpässe befürchtet.

Durch die spektakuläre Veröffentlichung eines französischen Geheimberichts in der britischen Zeitung „The Observer” wird die von den Franzosen betriebene verdeckte Annexionspolitik durch Förderung des rheinischen Separatismus offenkundig. Es handelt sich um den Bericht des Präsidenten der Rheinlandkommission, Paul Tirard, vom 16. April über die Beziehungen zu dem Separatisten Hans Adam Dorten.

 

Montag, 25. Juni
Vor dem rheinischen Provinziallandtag (bis 28. Juni) erklärt der preußische Innenminister Carl Severing, die von den Franzosen angestrebte Loslösung des Rheinlands vom Deutschen Reich sei absolut indiskutabel.

In einer Sitzung des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale in Moskau hat Karl Radek, Sekretär für Deutschland im Exekutivkomitee, den „kleinbürgerlichen Massen“ in Deutschland die Hand gereicht, Schlageter als „mutigen Soldaten der Konterrevolution“ und „Märtyrer des deutschen Nationalismus“ betrauert und zur Bildung einer Einheitsfront der Arbeitenden aufgerufen. Um den zum Rechtsradikalismus tendierenden Antisemiten entgegenzukommen, haben einige KPD-Funktionäre ihre Reden mit blutrünstigen Attacken auf das jüdische Finanzkapital gewürzt.

 

Dienstag, 26. Juni

Der britische Premierminister Stanley Baldwin teilt dem Unterhaus (London) mit, die Regierung beabsichtige, die Luftwaffe für defensive Zwecke erheblich zu vergrößern. In den folgenden zwei Jahren sollen 34 neue Geschwader (je 12 Flugzeuge) gebaut werden.

Innerhalb von vier Tagen werden 1.500 Eisenbahnerfamilien aus dem besetzen Rheinland ausgewiesen.

In Marl und Buer (Gelsenkirchen) werden im Zusammenhang mit dem verschärften Belagerungszustand drei Deutsche erschossen. Vorausgegangen war die Erschießung zweier belgischer Wachtposten durch einen Deutschen in der Nähe von Marl.

 

Mittwoch, 27. Juni
Papst Pius XI.
appelliert an die Gläubigermächte des Deutschen Reichs, die Reparationsfrage im Geiste des Christentums noch einmal zu prüfen. Gleichzeitig schlägt er vor, die Besetzung des Ruhrgebiets durch weniger „gehässige Sicherungen” zu ersetzen.

Nach seiner Loyalitätserklärung gegenüber der Sowjetregierung wird der seit 13 Monaten inhaftierte Patriarch Tichon aus der Haft entlassen.

 

Donnerstag, 28. Juni
Ein Misstrauensantrag der bürgerlichen Parteien gegen den sächsischen Ministerpräsidenten Erich Zeigner (SPD) wird mit 48 gegen 43 Stimmen abgelehnt. Anlass der bürgerlichen Initiative ist die Rede Zeigners (16. Juni), in der er die Großindustrie der Korruption im Ruhrkampf beschuldigt hatte.

 

Freitag, 29. Juni
Als Ballett wird in der Berliner Staatsoper Franz Johannes Weinrichs Legendenspiel „Der Tänzer unserer lieben Frau” aufgeführt.

Vor dem französischen Senat rechtfertigt Ministerpräsident Raymond Poincaré im Hinblick auf den Appell des Papstes Pius XI. (27. Juni) erneut die Ruhrbesetzung. Frankreich werde ein so kostbares Pfand wie das Ruhrgebiet nicht aufgeben, ehe das Deutsche Reich seine Reparationsschuld gezahlt habe.

 

Samstag, 30. Juni
Auf einen belgischen Soldatenzug wird bei der Hochfelder Rheinbrücke ein Bombenattentat verübt. Die Explosion tötet zehn Personen. Franzosen und Belgier machen deutsche Saboteure für den Vorfall verantwortlich und fordern Genugtuung. 20 Duisburger Bürger werden als Geiseln festgenommen.

Die Reichsregierung veröffentlicht ein Weißbuch, in dem die Gewalttaten der französisch-belgischen Truppen festgehalten werden.

Im vergangenen Monat war der US-Dollar durchschnittlich 110.000 Mark wert, ein Brot kostet mittlerweile 1.428 Mark.

 

DEUTSCH-FRANZÖSISCHE ANIMOSITÄTEN

  • Ausgewiesen:

    (WA 135/1923 vom 16. Juni)

     

  • Die Antwort der Alliierten:

    (WA 135/1923 vom 16. Juni)

     

  • Sanktionen und Terror:

    (WA 136/1923 vom 17. Juni)

     

  • Das wollen sie gerade:

    (WA 137/1923 vom 19. Juni)

     

  • Verurteilung eines pfälzischen Landtagsabgeordneten:

    (WA 139/1923 vom 21. Juni)
    Anmerkung: Dies war auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil die Pfalz ein Teil Bayerns war und damit ein bayerischer Abgeordneter Teil des Besatzungskampfes wurde.

     

  • Die Franzosen räumen den Bahnhof Hattingen:

    (WA 139/1923 vom 21. Juni)

     

  • Die Hungerblockade:

    (WA 139/1923 vom 21. Juni)

     

  • Frankreichs Kampf gegen die Eisenbahner:

    (WA 140/1923 vom 22. Juni)

     

  • Der Papst zur Ruhrfrage:

    (WA 141/1923 vom 23. Juni)

     

  • Die Schänder und die Folterer:

    (WA 142/1923 vom 24. Juni)

     

  • Der sächsische Ministerpräsident für die Aufgabe des passiven Widerstandes:

    (WA 143/1923 vom 26. Juni)
    Anmerkung: Die höchst kritische Versorgungslage in Deutschland ließ die Solidarität mit dem passiven Widerstand an Rhein und Ruhr bröckeln.

     

  • Der französische Geheimbericht:

    (WA 144/1923 vom 27. Juni)

     

  • Englisch statt Französisch auch in Südamerika:

    (WA 144/1923 vom 27. Juni)
    Anmerkung: An den Schulen wurde Französisch stets gegenüber dem Englischen bevorzugt. Das änderte sich jetzt – aus politischen Erwägungen.

 

INFLATIONSAUSWÜCHSE

Anmerkung: Der Wechselkurs des US-Dollars erreicht am 16. Juni 1923 den Gegenwert von 107.730 Mark, steigt zum 21. Juni auf 158.460 Mark, fällt dann zum 27. Juni auf 113.964 Mark, um dann am 29. Juni den Kurswert von 152.617 Mark zu erreichen.

  • Oesterreich und die sinkende Mark:

    (WA 139/1923 vom 21. Juni)

     

  • Wenn es Dir, lieber Leser, besser paßt …:

    (WA 139/1923 vom 21. Juni)

     

  • Auf dem Münchner Fleischgroßmarkt:

    (WA 139/1923 vom 21. Juni)
    Anmerkung: Durch diese Meldungen wurde deutlich, wie weit die Versorgung der Menschen in Deutschland durch die Ruhrbesetzung und den passiven Widerstand eingeschränkt wurde)

     

  • Eindeckung mit Brennstoffen:

    (WA 140/1923 vom 22. Juni)
    Anmerkung: Nicht nur die Nahrungsmittelversorgung stockte, auch die Versorgung mit Brennstoffen wurde knapp, sodass die Stadt Wasserburg hier eingriff.

     

  • Eiernot:

    (WA 146/1923 vom 29. Juni)
    Anmerkung: Bedenkt man, dass man das Abonnement für den Wasserburger Anzeiger auch in Eiern bezahlen konnte, bekommt diese Meldung eine neue Dimension.

 

VERMISCHTES IN DER 2. JUNIHÄLFTE 1923

  • Schlageter-Denkmal:

    (WA 135/1923 vom 16. Juni)

     

  • Schwere Strafen für Kirchenraub:

    (WA 137/1923 vom 19. Juni)

     

  • (Linz), Eine verhinderte Hitlerrede:

    (WA 139/1923 vom 21. Juni)
    Anmerkung: Bemerkenswert deshalb, weil man gerade in Bayern sich nicht traute, der NSDAP entgegenzutreten, weshalb Hitler immer wieder Gelegenheit bekam zu reden. In Hitlers oberösterreichischer Heimat war das anders.

     

  • Papa-Diebin:

    (WA 141/1923 vom 23. Juni)

     

  • Ein neues Bayernlied:

    (WA 142/1923 vom 24. Juni)
    Anmerkung: Dieses Bayernlied konnte sich dann aber nicht durchsetzen, es blieb bei dem Text und der Musik aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Meldung zeigt aber, wie sehnsüchtig man versuchte Identität zu schaffen, da zu viele Menschen sich auch in ihrer Heimat heimatlos fühlten, in Umbruchszeiten ein häufig wiederkehrendes Phänomen.

     

  • A sauberer Zahnarzt:

    (WA 143/1923 vom 26. Juni)

     

  • Italien rottet das Südtiroler Deutschtum aus:

    (WA 144/1923 vom 27. Juni)
    Anmerkung: Dieses Phänomen ist in Südtirol bis heute lebendig geblieben.

     

  • Hardings Kampf gegen den Alkohol:

    (WA 146/1923 vom 29. Juni)

 

WASSERBURG UND UMGEBUNG IN DER ZWEITEN JUNIHÄLFTE 1923

  • Wieder eine namhafte Spende:

    (WA 135/1923 vom 16. Juni)

     

  • Liedertafel Wasserburg:

    (WA 139/1923 vom 21. Juni)

     

  • (Babensham) Die neuen Glocken:

    (WA 139/1923 vom 21. Juni)

     

  • (Rosenheim) Tödlicher Absturz am Brünnstein:

    (WA 139/1923 vom 21. Juni)

     

  • Direktorenstelle Schülerheim:

    (WA 141/1923 vom 23. Juni)

     

  • (Ebersberg) Einbruchsversuch:

    (WA 145/1923 vom 28. Juni)

     

  • Enthüllung Gedenktafel:

    (WA 146/1923 vom 29. Juni)

 

Wie sich im Juli alles weiterentwickelt …

…  wird in Teil 13 der Serie zu lesen sein, die in Kürze folgt.

PETER RINK

Bildernachweis:

Vorlage für das Titelbild/Serienlogo:
Rückseite des Gutscheins (Notgeld) der Stadt Wasserburg aus dem Jahr 1923 über eine Million Mark mit Zeichnung der Innfront/Burg vom Südufer des Inns (Rothmaier, 1920)

Gutscheinbild:
Vorderseite des Gutscheins der Stadt Wasserburg

StadtA Wasserburg a. Inn, IVd3, Repro/Fotobearbeitung: Matthias Haupt