„Theater… und so fort“ aus München gestern bei den Wasserburger Theatertagen

Zwei Akteure, man nennt sie „A“ und „B“, sie sind Nachbarn, unterhalten sich im Treppenhaus. Bisher haben sie sich immer nur höflich begrüßt, aber an diesem Tage stellt der Nachbar von oben im Auftrage seiner Frau die entscheidende Frage: „Sind Sie Jude?“. Was folgt, ist ein siebzigminütiger flotter Dialog zweier Männer, das Ganze voll an satirischen Elementen, in denen ein täglich gelebter Antisemitismus bei uns gekonnt aufs Korn genommen wird. Mehr und mehr werden antisemitische Vorurteile sowie allgemeine Binsenwahrheiten sabotiert und eindeutige identitäre Zuordnungen mit Witz und Humor unterlaufen. Aufkeimende Freundschaft wechselt sich mit launischer Feindschaft ab – zu sehen gestern  bei den Wasserburger Theatertagen.

A, der immer wieder betont, dass es seine Frau sei, die ihn beauftragt habe, B Fragen über das Judentum zu stellen und selbst anscheinend ihren Antisemitismus auslebe, wenn sie kleine Klebezettel mit antisemitischen Inhalten an B’s Briefkasten klebe. Im Laufe des Abends verwandelt sich dieser Antisemitismus von A’s Frau aber in ein Verhalten von A, bei dem er selbst jüdische Verhaltensvorschriften befolge und am Ende sogar mit seiner Frau in die USA auswandern wolle, weil man dort als Jude besser leben könne.

Jean-Claude Grumberg hatte sein Stück „pour en finir avec la question juive“ (Die endgültige Klärung der Judenfrage) genannt, es 2013 geschrieben. Im théâtre Antoine  in Paris wurde es am 17. Februar 2015 uraufgeführt, ziemlich genau 40 Tage nach dem schrecklichen Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt in Paris.

Das „Theater… und so fort“ aus München bot diese „Farce“ in einem hohen Maß an Gekonntheit mit hoher Dynamik und viel Wortspiel. Das Stück ist in neun Szenen eingeteilt, die stets am gleichen Ort spielen, nämlich im Treppenhaus und jede Szene wird eingeleitet mit dem Ohrwurm der Comedian Harmonists aus dem Jahre 1934 „Mein kleiner grüner Kaktus“. Dieser Schlager könnte bewusst gewählt worden sein, war dieser Song doch einer der letzten, den die Comedian Harmonists aufführen durften, da diese Gruppe um die Jahreswende 1934/1935 von den Nationalsozialisten mit Auftrittsverbot belegt wurde.

In „Entweder…oder“ keimen sehr schnell antisemitische Vorurteile hoch, verbunden mit einer gewissen Bildungsfeindlichkeit, wenn beispielsweise A, ausgezeichnet verkörpert durch Konrad Adams, sagt, dass er mehr über das Judentum wissen wolle und B, brilliant gespielt von Heiko Dietz, ihm zwei oder drei Bücher als Einstiegslektüre anbietet. „Ich weiß schon, dass Bücher zum Lesen da sind“, entgegnet A, und er will damit sagen, dass er im Grunde keine Bücher lesen wolle. Er lädt B zum Apéritif ein, damit das Ganze mit der Frau, die ihn ja beauftragt habe,  besprochen werden könne. Doch die ausgesprochene Einladung wird während des ganzen Abends zwar mehrfach ausgesprochen, aber nie eingelöst. Ist auch dies ein Signum für unseren Umgang mit dem Antisemitismus?

In der satirischen Überspitzung zwischen Dialogbereitschaft und Bildungsferne stellt A fest, dass er Geographie hasst, um gleich darauf festzustellen, dass seine Frau aus dem bretonischen Quimper stamme und der Großvater sei in Brest (gemeint ist das frühere polnische, nach 1945 sowjetrussische und heute belarussische Brest-Litowsk und nicht die bretonische Hafenstadt am Atlantik) geboren. Daraus schließt A, dass Juden „Ostbretonen“ seien. Die Frage, wer ein Jude sei, treibt die beiden Akteure während des gesamten Abends um. Sie stellen fest, dass „ein Jude ist, wer’s nicht verneint, dass er’s ist, wenn er’s ist“ und dann kommen sie sofort zur Erkenntnis, dass ein Jude zwar sterblich, aber die Juden eben unsterblich seien.

 

Die Absurdität der rassistischen Ideologie der Nationalsozialisten, bei denen jüdisches „Blut“ in den Gegensatz zum „deutschen Blut“ gestellt wurde, machen die beiden Akteure deutlich, als A B fragt, warum er in Paris bleibe, wo er als Jude doch Israel habe und B antwortet: „Weil ich Käseliebhaber bin!“

Als B dann einlässt: „Wir sind Atheisten, sogar beim Fleisch!“ und damit Essensvorschriften im Judentum und im Islam aufs Korn nimmt, wird die gesamte Debatte der Religionen, die wir auch in Deutschland teilweise recht grotesk führen, thematisiert. Da wird auch an diesem Abend der Jude gegen den Araber gestellt, um diese Absurdität auch sofort deutlich zu machen, wenn beide Akteure Franzose und Katholik auf eine Ebene stellen. Dann stellen sie fest, dass bestimmte Handlungen, wie zum Beispiel die Beschneidung, nicht rückgängig gemacht werden können. B bringt die gesamte Thematik irgendwann auf den Punkt, als er sagt: „Ich bin Jude und stolz darauf. Was muss ein Jude tun, um anerkannt zu sein?“ A verwandelt sich in den siebzig Minuten dieses Dialogs in sehr hohem Tempo, trägt einen Hut und am Ende auch eine Kippa, bedeckt seine Unterarme und zeigt damit Anpassung an jüdische Lebensformen. Als beide Akteure an diesem Abend die These problematisieren, dass es nach Auschwitz nur zwei Möglichkeiten gebe, nämlich dass Gott entweder nicht existiere oder er ein Sadist sei, ist im Grunde vieles gesagt. Mit der Frage: „Ist Hitler zurückgekommen?“ Und der Antwort: „Er war nie weit!“ endete der Theaterabend.

Und er ließ manche Frage offen: Werden die beiden Nachbarn endgültige Antworten auf ihre Gretchenfrage finden können? Vielleicht tun sich dabei auch immer wieder neue auf, wie es der Theaterabend so überzeugend unter Beweis stellte.

Der lang anhaltende, euphorisch wirkende Applaus machte deutlich, dass das Publikum, das Theater Wasserburg hatte keinen freien Sitzplatz mehr, die Leistung der beiden Schauspieler zu würdigen verstand.

Es ist an diesem Theaterabend in eindrucksvoller Weise gelungen, das Thema Antisemitismus, das im Moment auch bei eine große Aktualität hat, in satirischer Weise dem Publikum nahe zu bringen, ohne erhobenen Zeigefinger, aber stets so, dass einem das Lachen im Halse steckenbleiben konnte.

Das letzte Theaterstück der disjährigen Theatertage Wasserburg findet am Samstag, 24. Juni 2023 um 20 Uhr mit der Satire von Vinay Patel: „Sticks & Stones“, gespielt vom Hofspielhaus München, statt.

Am Sonntag, 25. Juni, enden die Theatertage 2023 mit der Verleihung des Publikumspreises durch den Kulturreferenten des Landkreises Rosenheim, Christoph Maier-Gehring. Motto des Abends: „Ein Kessel Buntes“.

PETER RINK